Im BFGjournal zu Gast
Mag.a Andrea Müller-Dobler, MBA MSc, Vizepräsidentin des Bundesfinanzgerichtes
„Der unmittelbare Einsatz von künstlicher Intelligenz wird kein Thema sein, in der Rechtsprechung ist die menschliche Intelligenz nicht wegzudenken“
Mag. Andrea Müller-Dobler ist seit 1. 1. 2023 Vizepräsidentin des BFG. Davor war sie ab 2014 Richterin und Senatsvorsitzende am BFG und ab 2003 Mitglied des Unabhängigen Finanzsenates. Nach dem Diplomstudium der Rechtswissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz begann sie 1993 in der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland. Die vielfache Fachautorin und Vortragende baten wir nach dem Maiforum zum Interview.
Das traditionelle Maiforum fand dieses Jahr am 5. Mai im Festsaal des Justizministeriums statt. Die Vizepräsidentin nahm an der Podiumsdiskussion „Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektive“ teil. Anhand ihrer Antworten konnte man ihre langjährige Erfahrung als Richterin erkennen. Sie analysierte die Verfahren vor dem BFG, gab einen Blick in die Vergangenheit und präsentierte Problemlösungen für die Zukunft.
BFGjournal: Bevor wir auf das Maiforum zu sprechen kommen; eine Frage zu Ihren ersten vier Monaten. Ich denke, auf Sie wartet viel Arbeit. Denn nach der Pensionierung von Dr. Daniela Moser Ende November 2019 war der Vizepräsident Dr. Christian Lenneis zwei Jahre alleine. Dann folgte ihm am 1. 12. 2022 Dr. Peter Unger als Präsident nach und erst seit 1. 1. 2023 gibt es endlich wieder zwei Personen im Präsidium. Wie war der Umstieg von der Rolle als Richterin in die Rolle der Vizepräsidentin?
Andrea Müller-Dobler: Die erste Zeit war sehr ereignisreich, die Tätigkeit ist eine völlig andere als die Rechtsprechung. Auf der Tagesordnung stehen nun Besprechungen, Gespräche und die Tätigkeit in den Ausschüssen (Personal- und Geschäftsverteilungsausschuss). Gleich zu Beginn waren die Dienstbeschreibungen – von Gesetzes wegen sind diese am Beginn eines jeden Jahres – vorzunehmen.
Derzeit finden die Auswahlverfahren für die ausgeschriebenen richterlichen Planstellen statt. Das ganze Jahr werden schließlich die richterlichen Geschäfte durch den Geschäftsverteilungsausschuss den Richter:innen zugeteilt.
BFGjournal: Wie erwartet hat Sie Mag. Benedikt Kommenda, der Moderator der Podiumsdiskussion, zu den Aktenrückständen gefragt. Die Situation hat sich jedoch signifikant verbessert. Welche Maßnahmen führten dazu?
Andrea Müller-Dobler: Ein ganz großer Schritt in Richtung Abbau der Rückstände besteht in der nun jährlichen Nachbesetzung der pensionsbedingten Abgänge der Richter:innen. Hier wurden allein in den letzten eineinhalb Jahren mehr Stellen ausgeschrieben bzw schon besetzt als in den letzten 20 Jahren.
BFGjournal: Und welche Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren sehen Sie noch? Sie erwähnten ua, dass das vom BMF zur Verfügung gestellte Abgabenberechnungsprogramm unzureichend ist und eine diesbezügliche gesetzliche Verordnung noch immer auf sich warten lässt.
Andrea Müller-Dobler: Ja, das den Richter:innen zur Verfügung stehende Berechnungsprogramm ist nicht auf den alltäglichen richterlichen Einsatz zugeschnitten, es verursacht in der Praxis häufig Probleme und verzögert den Ablauf. Die Richterschaft ruft seit langer Zeit nach einem für sie adäquaten Berechnungsprogramm.
Seit dem Abgabenänderungsgesetz 2022 gibt es nun eine Verordnungsermächtigung für den Finanzminister. Dem Vernehmen nach soll sie demnächst umgesetzt werden. Auch das nunmehr eingeführte Neuerungsverbot im Falle des Schlusses der mündlichen Verhandlung und die Verfahrensförderungspflicht sind für uns von großer Bedeutung.
BFGjournal: Bei all den Maßnahmen darf man aber nicht die Ermittlungspflicht der Richter und Richterinnen vergessen, was insbesondere bei komplexen Sachverhalten mit internationalen Bezug länger dauern kann. Rechtsanwalt Dr. Michael Rohregger plädierte verstärkt, die Möglichkeit eines Erörterungstermins wahrzunehmen. Dr. Gabriele Krafft sah darin allerdings keine Beschleunigung, sondern bevorzugt stattdessen gleich eine mündliche Verhandlung. Wie ist Ihre Einschätzung?
Andrea Müller-Dobler: Meiner Meinung nach liegt dies an den Richter:innen selbst. Viele Kollegen sehen im Erörterungstermin eine Möglichkeit, ein langwieriges Vorhalteverfahren abzukürzen, indem sie die Parteien laden und die anstehenden Fragen in vollem Umfang erörtern. Andere Kollegen bevorzugen den schriftlichen Weg im Vorfeld und führen stattdessen eine mündliche Verhandlung durch.
Ich sehe den Erörterungstermin in diesen Fällen als sinnvoll an, wenn der Sachverhalt strittig ist, dieser ist in Anwesenheit der Partei natürlich effizienter und schneller zu klären. Das ist naturgemäß immer vom jeweiligen Einzelfall abhängig und liegt in der Verantwortung der jeweiligen Richter:innen.
Ob ein Erörterungstermin oder eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, ist dann nicht von wesentlicher Bedeutung, wichtig ist, dass bei ständig zunehmenden grenzüberschreitenden Sachverhalten die Anwesenheit der beschwerdeführenden Parteien viel zur Verfahrensbeschleunigung beiträgt. Amtshilfe mit dem Ausland bedeutet Zeitverzögerung und führt nicht immer zum Erfolg.
BFGjournal: Mag. Michael Fuchs-Robetin, Richter des BVwG, bemängelte, dass in Deutschland im Verwaltungsverfahren Vergleiche zugelassen sind, in Österreich nicht. Sie und auch die Senatsvorsitzende Dr. Gabriele Krafft äußersten sich dazu, was das Steuerrecht betrifft, kritisch. Könnten Sie die Bedenken für unsere Leserschaft nochmals zusammenfassen?
Andrea Müller-Dobler: Zunächst ist anzumerken, dass ein „Vergleich in Steuersachen“, wie es ihn in Deutschland gibt, bei uns gesetzlich nicht vorgesehen ist. Die Richterschaft ist an die Gesetze gebunden und hat diese anzuwenden. Ein Vergleich über die Steuerschuld ist in Österreich derzeit unmöglich. Die BAO sieht vor, dass bei Erfüllung eines Tatbestandes zwingend die Steuerschuld geknüpft ist. Anhand des Tatbestandes sind die rechtlichen Folgen und daraus resultierend die Höhe der Steuerschuld zwingend vorgegeben.
Wenn im umgangssprachlichen Sinn von einer „Einigung“ die Rede ist, sehe ich eine solche nur auf der Tatsachenebene und dann nur im Bereich eines – aber immer dem Legalitätsprinzip entsprechenden – Beurteilungsspielraums, wie zum Beispiel der Bewertung, bei „fiktiven“ Anschaffungskosten oder bei der Höhe eines Privatanteiles also ganz allgemein gesagt bei Schätzungen. Wenn Sie sich die Definition des gemeinen Wertes oder eines Teilwertes vor Augen halten, ergibt sich ein großer Spielraum, der in jahrelangen Verfahren ausgereizt werden kann. Hier eine „Einigung“ zu erzielen, mit der beide Parteien leben können, erscheint in manchen Fällen sinnvoll und führt auch zu einem Rechtsfrieden, da diese Sachverhaltselemente oft die Basis für die nachfolgenden Jahre in der Bilanz bilden.
BFGjournal: Bei den Zukunftsperspektiven fielen die Schlagworte Legal Tech und ChatGPT. Wie sieht die digitale Zukunft im BFG aus?
Andrea Müller-Dobler: Die Digitalisierung ist ein großes Thema und auch in der Rechtsprechung nicht mehr wegzudenken. Das interne Rechtsmittelsystem und der elektronische Akt sind die Basis für die Arbeit der Richterschaft. Dementsprechend sind die Workflows anwenderfreundlich zu gestalten. Derzeit arbeiten wir an einem durchgehenden Workflow im Arbeitsprozess bis zu den Höchstgerichten sowie an der elektronischen Zustellung an die Parteien. Eine digitale Zukunft in der Rechtsprechung sehe ich derzeit nicht. Der unmittelbare Einsatz von künstlicher Intelligenz ist und wird kein Thema sein, in der Rechtsprechung ist die menschliche Intelligenz nicht wegzudenken.
BFGjournal: Mein Eindruck nach den zahlreichen Interviews, die ich mit Personen aus der Beratung und der Wissenschaft geführt habe, ist, dass sich bereits der UFS und noch mehr das BFG von der Finanzverwaltung emanzipiert hat. An welchen Kriterien kann man das sehr gut erkennen?
Andrea Müller-Dobler: Die Richter:innen leben die Äquidistanz zu beiden Parteien, erheben den Sachverhalt unvoreingenommen und wägen die Argumente in alle Richtungen ab. Es werden Entscheidungen, die gegen die Richtlinien verstoßen, wie selbstverständlich gefällt, weil die Richter:innen allein dem Gesetz verpflichtet sind. Die gegen diese Erkenntnisse erhobenen und vom VwGH abgewiesenen Amtsrevisionen führen oftmals auch zu einem Umdenken in der Finanzverwaltung und somit zu einer Änderung der Richtlinien. Außerdem wurden zahlreiche Normprüfungsverfahren beim VfGH und Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH angeregt.
Stöger-Frank/Müller-Dobler in BFGjournal 2023, 154